Kritik an Streecks Kalkulation von 1,8 Millionen Infizierten haltlos

[letztes update: 08.05.2020]
Am 07.05.2020 auf n-tv zu lesen: Heinsbergstudie enthält Rechenfehler . . . hätten die Autoren das Originalpapier doch einmal selbst gelesen.

Darin werden die Berechnungen und Herleitungen klar dargelegt; ebenso der Fehlerbereich des in diesem Kontext wichtigen IFR (Infection Fatality Rate) Wertes. Einzig der vom Robert Koch Institut zum 02.05.2020 publizierte Wert von 6575 Covid-19 Toten in Deutschland wird als gegeben angenommen.

Worum geht es eigentlich

Mit der Gemeinde Gangelt (Kreis Heinsberg) steht die bisher beste bekannte „Modellgemeinde“ zur Untersuchung bestimmter Aspekte von Covid 19 für die Wissenschaft zur Verfügung. Prof. Streeck hat mit seinen Kollegen diese Gemeinde genau deshalb zur Untersuchung ausgewählt. In seiner aktuellen Studie wird vor allem der so genannte IFR Wert bestimmt. Kann man diesen Wert genau bestimmen, kann man auch die Sterblichkeitsrate genau bestimmen. Das ist wichtig, weil die Sterblichkeitsrate ein wichtiger Parameter ist, um die Gefährlichkeit einer Krankheit, hier von Covid 19, ermitteln zu können.

Zur Bestimmung der Sterblichkeitsrate teilt man die Zahl der Toten durch die Zahl der tatsächlich Infizierten. Je größer die Zahl der Toten und je kleiner die Zahl der Infizierten, um so größer die Sterblichkeitsrate und um so gefährlicher die Krankheit.

Nimmt man zum Beispiel die Werte des Robert Koch Instituts vom 08.05.2020, erhält man folgende Gleichung:

Sterblichkeitsrate = \frac{7266}{167300} = 0,043 = 4,3 \%

Influenza hat zum Vergleich eine Sterblichkeitsrate von 0,1 \% - 0,2 \%. Eine Kalkulation, basierend auf den Daten des Robert Koch Instituts, liefert damit eine Sterblichkeitsrate für Covid 19 die grob 10 mal größer ist, als die Sterblichkeit der Grippe. Diesen Unterschied um den Faktor 10 nennt man einen „Unterschied von einer Größenordnung“.

Prof. Streeck und Kollegen ermitteln über die bis jetzt am genauesten bestimmte IFR auch die genaueste Abschätzung aller Infizierter, die so genannte Dunkelziffer eingeschlossen.

Daraus kalkuliert er eine Sterblichkeit von 0,36 %. Und die Zahl ist nun wieder eine Größenordnung kleiner, als die oben beschriebene. Ergo, Covid 19 ist bezüglich des Wertes Sterblichkeitsrate ein klein wenig schlimmer als die Grippe.

Eine abschließende Bestimmung über die Gefährlichkeit von Covid 19 ist nur unter der Betrachtung der Sterblichkeit allerdings nicht ausreichend. Dazu wären weitere Untersuchungen von zum Beispiel bleibenden organischen Schäden bei Covid 19 Patienten wichtig.

Kalkulation

Erst einmal ein einfaches Beispiel:
Angenommen es gibt 1000 Infizierte und genau einen Toten, dann ist die IFR gleich 0,1%. Kennt man die Anzahl der Infizierten nicht, kann aber aus einer Stichprobe die IFR hinlänglich genau bestimmt werden, kann man umgekehrt rechnen: 1 Toter geteilt durch 0,1% oder \frac{1}{0,001} = 1000.

Für Streecks Rechnung in seiner Publikation wurden folgende Werte angenommen: 6575 Tote und ein IFR von 0,36%: \frac{6.575}{0,0036}=1.826.389 Infizierte.

Nimmt man nun die von Streeck ebenso publizierten korrigierten Minimal-, Mittel- und Maximalwert für die IFR, kann man folgendes kalkulieren:

  • \frac{6.575}{0,0052}=1.264.423 Infizierte
  • \frac{6.575}{0,0041}=1.603.659 Infizierte
  • \frac{6.575}{0,0033}=1.992.424 Infizierte

Dies passt alles wunderbar und ist im wissenschaftlichen Sinn durchaus genau innerhalb der genannten Streuungen. Die Abweichungen sind deutlich kleiner als eine Größenordnung.
Auf der anderen Seite ist der Mittelwert von 1,6 Millionen Infizierter allerdings genau eine Größenordnung größer, als der vom RKI zum 02.05.2020 publizierte Wert von 162.496 Infizierten.

Hauptergebnisse der Streeckstudie

  • 15,53 % der Bevölkerung Gangelts sind infiziert
  • Die Infiziertenrate Gangelts liegt um den Faktor 5 über dem offiziell berichteten Wert aller Infizierter
  • Die Sterblichkeitsrate ist mit 0,36% bzw. unter bestimmten Annahmen korrigiert auf 0,41% deutlich niedriger als die in chinesischen Arbeiten berichteten 2,3%
  • Die Zahl der aktuell Infizierten liegt um circa dem Zehnfachen über den Werten, die vom RKI publiziert werden
2 Gedanken zu „Kritik an Streecks Kalkulation von 1,8 Millionen Infizierten haltlos“
  1. Kleiner Hinweis: Streecks Studie weist eine Sterblichkeitsrate von 0,36% auf. Dies ist zwar niedriger, als in chinesischen Arbeiten berichtet. Allerdings lag dieser Wert zu 100% im Erwartungswert deutscher Fachleute. Es ist also ein bereits eingepreister Wert.
    Christian Drosten stellte schon am 3. März 2020 in seinem öffentlichen Podcast „Coronavirus Update #1“ klar, dass die Fallsterblichkeit von Covid19 unter Aufhellung der Dunkelziffer bei gutem Gesundheitssystem bei 0,1-0,5% liegen würde. Die Info kommt etwas hinter Minute 30:00 in seinem Podcast. Die Todesrate unter normalen Bedingungen ist auch nie der Grund für den Covid19-Alarm gewesen.

    Der Grund ist eher die relativ hohe Hospitalisierungsziffer von 5% (viel höher als bei der Grippe), die deutlich längere Hospitalisierungszeit auf der Intensivstation (nebst einer viel höheren Dichte an Intensivfällen) und die mit der Grippe vergleichbare Ausbreitungsgeschwindigkeit, wenn keine Gegenmaßnahmen greifen.

    Wir wissen übrigens aus der Gangelt-Studie, dass Deutschland nur haarscharf (um etwa eine Woche, möglicherweise auch weniger, wenn man Gangelt direkt überträgt) an einer Katastrophe vorbei schrammte.

    Ein Missverständnis unterläuft Ihnen außerdem bei der Fallsterblichkeit für Influenza. Diese ist etwa 10 Mal niedriger, als von Ihnen dargelegt. Ich will Ihnen darlegen, wie das Missverständnis zustande kommt.

    Die Diskussion, wie Tote von Infektionskrankheiten gezählt wird, ist jahrunderte alt und die Diskussion seit Pasteur über die richtige Methode füllt vermutlich Regalkilometer in den Bibliotheken.

    In Deutschland sind speziell bei der Grippe zwei unterschiedliche Zählvarianten mit heftigst verschiedenen Ergebnissen üblich.
    Da ist zum einen die Zählung der laborbestätigten Todesfälle. Dies ist die exakt gleiche Zählweise, wie bei den Covid19-Opfern. Wer also Grippe mit Covid19 vergleicht, sollte sich an die Todesrate dieser Zählweise halten.
    Dabei gilt jeder als laborbestätigter Todesfall der Krankheit X, wenn er wegen klinischer Symptome der Krankheit X einem Krankenhaus oder einem Arzt zugeführt wird, er stirbt und in seinem Leib der Erreger der Krankheit X nachgewiesen wird.

    Das sind bei Covid19 bisher rd. 7500 Todesfälle. Bei der Grippe waren es in der besonders harten Saison 2017/18 hingegen 1674 Todesfälle. Covid19 ist also heute schon etwa 5 Mal tödlicher als eine besonders harte Grippewelle.

    Und dann gibt es eine zweite Zählmethode, die bei der Grippe besonders hohe Zahlen, aber in jedem 3. Jahr die Zahl null (streng genommen eine negative Zahl an Todesopfern) ergibt. Für die Grippesaison 2017/18 beträgt diese Zahl 25100 Todesopfer.
    Wie kommt diese Zahl, die sehr viel höher ist, als die 1674 laborbestätigten Fälle zustande?

    Nun, man schaut sich an, wie viele Menschen außerhalb der Grippesaison sterben. Und die zusätzlichen Toten in der Grippesaison gelten dann pauschal als Grippetote. Egal ob Glatteis im Winter, Sauffahrten an Karneval oder Bewegungsmangel zu Weihnachten die Todesrate nach oben treiben.

    In jedem 3. Jahr wird diese Exzess-Mortalität mit Null angegeben, eigentlich ist sie negativ. Das sind Jahre, in denen der heiße Sommer mehr Menschen über einen Kreislaufkollaps tötet, als die verschiedenen Eigenarten des Winters in der Grippesaison. Dann weist die Exzess-Mortalität null Grippetote aus, selbst wenn es laborbestätigte Todesfälle von ihr gibt.

    Sprich: Einen „Fachmann“, der etwas schlitzohrig lügt, den erkennt man daran, dass er beim Vergleich zwischen Covid19 und Grippe die Zahl der Exzessmortalität nennt. Jeder Fachmann weiß nämlich, dass die durch gleiche Erhebung gewonnene Zahl der Grippetoten die der laborbestätigten Todesfälle ist.

    1. Hallo Herr Schüle,

      vielen Dank für Ihren Beitrag.

      Die ganzen Zahlen, die diskutiert werden und die vielen Bezeichnungen, die verwendet werden, waren nicht Schwerpunkt meines Beitrags. Mit Ihrer Kritik treffen Sie insofern ins Schwarze, als dass der Nicht-Fachmann in aller Regel die Begrifflichkeiten nicht ausreichend kennt und letzten Endes keine Klarheit bekommt. Die Art und Weise, wie aus meiner Sicht durch viele an der Diskussion beteiligte, für Intransparenz gesorgt wird, kann man höflich formuliert als ärgerlich bezeichnen. Was wir brauchen ist Transparenz und Klarheit in der Darstellung und bezüglich der verwendeten Begriffe. Im gegebenen Kontext sei nur auf die Begriffe Fallsterblichkeitsrate und Infektionssterblichkeitsrate (Infection Fatality Rate, IFR) hingewiesen. Wenn Sie Drosten zitieren, verweisen Sie auf die Fallsterblichkeitsrate. Der von Streeck et al. publizierte Wert von 0,36% gibt aber die IFR an.

      Und damit sind wir beim Punkt: Streeck et al. haben die IFR bestimmt. Mit den besonderen Gegebenheiten in Gangelt standen den Forschern beste Möglichkeiten bereit, diesen IFR Wert zu bestimmen. Das haben sie mit der bisher größten Genauigkeit und Belastbarkeit weltweit getan. Darin liegt das Verdienst der Wissenschaftler und das möchte ich an dieser Stelle explizit würdigen. Kaum veröffentlicht, kriechen nun irgendwelche Kritiker aus irgendeiner Ecke und verlautbaren, Streeck hätte Rechenfehler begangen. Das stimmt nicht. Der publizierte Wert von gut 1,8 Millionen Infizierter ergibt sich stringent aus der vom RKI publizierten Zahl an Toten und dem von Streeck et al publizierten Wert für die IFR von 0,36%. That’s it. Die Kritiker schreiben nun, dass man die Fehlerbreite des IFR Wertes zu dieser Kalkulation hätte heranziehen müssen. Das ist zwar korrekt, ändert aber nichts daran, dass 0.36% immer noch der wissenschaftlich richtige Mittelwert bleibt. Man kann Streeck at al. also vorhalten, die Bandbreite bei der Zahl der Infizierten nicht angegeben zu haben, die laut Kritik irgendwo zwischen einer und fünf Millionen liegen soll. Falsch gerechnet bezüglich der 0,36% haben die Wissenschaftler um Streeck aber nicht.

      Man könnte auch sagen, die Kritiker lügen in Bezug auf die Headlines ihrer Beiträge. Liest man dann deren ganze Kritik, wird klar, was sie wirklich meinen.

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